Fataler Kreislauf: Enttäuschung in und von Schule – Leistungsversagen – Schulverweigerung
Betrachtet man sich die heutige Schullandschaft, trifft man oftmals auf Klassenstärken von 25 – 30 Kindern, auch im Grundschulbereich. Jedes dieser Kinder bringt unterschiedliche Voraussetzungen mit, ist unterschiedlich motiviert für die Schule, hat mehr oder weniger Spaß am Lernen. Recht typisch aber für Kinder von 6 und 7 Jahren ist Neugierde.
Stellen wir uns vor: Paul [Grundsätzlich sind Paul und seine Geschichte
erfunden, insgesamt aber ein Produkt tatsächlicher Fälle und Erlebnisse,
was die Situation und Entstehung von Schulverweigerung und Leistungsversagen
unter hochbegabten Kindern veranschaulichen soll. ] hat es geschafft – mit
seinen gerade mal sechs Jahren ist er eingeschult. Nun endlich sagt keiner
mehr: „Für das Lesen und das Rechnen bist du noch zu klein.“ oder „Das
lernst du später in der Schule.“ oder „Das können wir
nicht machen, sonst langweilst du dich dann in der Schule.“ usw. Voller
Erwartung hofft er, dass ihm der Lehrer zeigt, wie das mit der schriftlichen
Multiplikation geht, denn die großen Zahlen kann er so schlecht im Kopf
rechnen. Er will auch wissen, was passiert, wenn der Mond morgens untergeht
und die Sonne am Himmel erscheint, Mama weiß das offensichtlich nicht.
Und dann so schöne Geschichten lesen können, wie das bisher noch
seine Oma für ihn macht – bei ihm dauert es noch zu lange, das ist
sein Traum.
Der erste Schultag ist da, Paul mit seinen hundert Fragen im Gepäck marschiert
los. Doch schon nach wenigen Minuten in der ersten Stunde versteht er nicht,
was im Klassenzimmer passiert. Wenige Kinder bleiben auf ihren Stühlen
sitzen – die Lehrerin erklärt ihnen, dass dies aber in den nächsten
Wochen erlernt werden muss. Sie dürfen sich auch freuen, wenn alle Kinder
ordentlich sitzen, bekommen sie schon heute ein Arbeitsblatt, um Schultüten
auszumalen. Wer sie schon zählen kann, darf daneben mit Strichen oder
sogar der passenden Zahl schreiben, wie viele es sind. Paul ist enttäuscht,
gemalt und geknetet hat er doch schon jahrelang im Kindergarten! Außerdem
sieht er es auf den ersten Blick – die längste Reihe hat 13 und
er weiß noch immer nicht, wie die schriftliche Multiplikation geht. Also
fragt er! Die Antwort: „Paul, das freut mich aber, dass dich die höhere
Mathematik – so nennen wir nämlich das Fach, wenn wir mit Zahlen
umgehen – schon interessiert, aber diese Frage wird in der dritten Klasse
beantwortet, jetzt müssen wir erst einmal lernen, die Zahlen 1 bis 10
zu schreiben, da haben wir ein schönes Stück Arbeit vor uns.“ Paul
erfasst, dass er in dieser Stunde und Klasse keine Antwort bekommen kann, und
wartet geduldig auf die Pause, denn er hat beim Betreten des Schulgebäudes
schon den Klassenraum der 3a gesehen. 20 min später verlässt er zielbewusst
die 1a und wechselt den Unterricht. Das fällt auch gar nicht auf, weil
alle Kinder in Gruppen an Tischen sitzen und jede ihre Arbeitsblätter
hat. Als die Stunde beginnt, fordert die Lehrerin auf, dass jeder seine Arbeit
von vorhin fortsetzt. Auch Paul nimmt sich ein Blatt – Matheaufgaben.
Das findet er spannend. Etwas mühevoll erliest er sich: „Betrachte
zunächst erst einmal das Beispiel zur schriftlichen Addition. Rechne es
selbstständig nach. Wenn du die Schritte wieder im Kopf hast, löse
zunächst die Aufgabe eins.“ Paul macht sich voller Eifer an die
Arbeit. Schnell erfasst er, was Addition heißt, obwohl er das Wort nicht
sprechen kann. Die Beispielaufgabe hat er rasch errechnet und das Ergebnis
stimmt. Nun löst er die nächsten 10 Aufgaben von a bis j. Es stört
ihn nur ein wenig der Lärm im Klassenraum, weil die Kinder am Tisch die
Ergebnisse diskutieren. Dann liest er weiter: „Hast du alle Aufgaben
gelöst, hole dir bei mir ein Blatt mit den Ergebnissen zur Kontrolle.“ Schnell
kombiniert er, dass er zur Lehrerin gehen soll, und macht sich auf den Weg.
Diese nun schaut ihn ganz verdutzt an und fragt: „Bist du ein neuer Schüler?
Ich wusste gar nicht, dass jemand dazu kommt.“ Wahrheitsgetreu antwortet
Paul: „Ja, ich gehe in die 1a, aber dort lernen sie das Malen und Zahlenschreiben
und ich will rechnen. Sind meine Aufgaben richtig?“ Noch erstaunter betrachtet
die Frau seine Lösungen und erkennt nur einen kleinen Fehler.
Was glauben Sie? Wie ist die Lehrerin mit dieser Situation umgegangen?
Sie nahm Paul an die Hand, nachdem sie ihm voller Bewunderung über den Kopf gestrichen hatte, und brachte ihn wieder zurück in seine Klasse. Ein kurzes Gespräch mit der Kollegin beendete seinen Ausflug an diesem Tag. Auch im Lehrerzimmer wurde anschließend darüber gesprochen, alle wunderten sich, wie es möglich sei, dass Paul all diese Aufgaben am ersten Tag gelöst hat, fragten sich, woher der Kleine den Mut nahm, in eine andere Klasse zu gehen. Leider aber suchte niemand eine Lösung für Pauls Problem – Langeweile schon am ersten Schultag. Er wurde kurzzeitig zum Stadtgespräch, seine Eltern wurden als besonders ehrgeizig angesehen und bekamen viele Ratschläge, wie sie Pauls Wissensdurst bremsen könnten – er sollte ein Instrument erlernen, die Schach – AG am Nachmittag besuchen, Sport treiben, damit er ausgelastet ist. Dabei hatten die Eltern so gehofft, dass es nun auch für sie etwas leichter würde, weil Paul in der Schule verschiedene Lernangebote bekäme, die sie ihm nicht bieten könnten. Aber die Probleme begannen nun eigentlich erst: tägliche Einträge, weil Paul den Unterricht durch Zwischenrufe störte oder seine Aufgaben nicht erfüllte. Alle Kinder, die am ersten Tag nicht auf ihrem Platz saßen, arbeiteten nun voller Eifer, um den Kringel der Zwei sauber aufs Papier zu bringen. Auch Pauls Zwei sah noch sehr krakelig aus, aber er wollte die schriftliche Multiplikation erlernen. Leider fand sich dazu in seinem Mathebuch nichts, das hatte er nämlich schon durchgeblättert. Mehrfach hatte er der Lehrerin erklärt, dass er all dies bereits könne, sie jedoch glaubte ihm nicht, das beste Beispiel seien seine Zweien. Auch seine vielen anderen Fragen konnte er in keinem Unterrichtsfach stellen. Den Harry – Potter – Band, den er unter dem Tisch las, als die anderen Kinder alle Wörter suchten, die mit M begannen, und jene auf einen Stapel ordneten, die den gleichen Anlaut besaßen, nahm die Lehrerin ihm weg, denn schließlich verpasse er die wichtigsten Schritte, um das Lesen zu erlernen. Dass er dies bereits beherrschte, vergaß sie, schließlich gab es noch 24 andere Kinder mit ihren Besonderheiten, Lernproblemen usw.
Was glauben Sie, welchen Weg hat Paul gesucht, um den Schultag zu überstehen?
Er hat anfangs noch versucht, die 3a zu besuchen, wurde aber jeweils schnell
entdeckt und in seine Klasse zurückgeführt, nicht ohne Rüge
für seine erneute „Flucht wegen Langeweile“. Heimlich hat
er immer wieder unter der Bank gelesen, aber die Lehrerin hat dies schnell
durchschaut und dadurch sind ihm für immer längere Zeiten seine Bücher „abhanden“ gekommen – zur
Strafe, also hat er dann nicht mehr in der Schule gelesen. Den eigentlichen
Unterricht verfolgte er kaum, weil er sich langweilte, es gab nichts, was seinem
Interesse entsprach, ihn motivierte. Zunehmend störte er durch Kasperei,
Herumlaufen, Zwischenrufe. Er äußerte sich später dazu folgendermaßen: „In
der Klasse ist die Hölle los. Wieder einmal … Eines der Schulkinder
macht sich einen Spaß daraus, den Klassenlehrer durchs Zimmer zu jagen.
Die Klassenkameraden feixen. Von geordnetem Unterricht kann keine Rede mehr
sein. Wie auch, wenn man einen Clown in der Klasse hat. Obwohl die Beschwerden
bis zu meinen Eltern durchdrangen, die sonst nicht zögerten, auch hart
und fühlbar zu bestrafen, änderte das wenig an meinem Verhalten.
Ich war hoffnungslos unterfordert und nutzte die zusätzliche freie Zeit,
die ich aufgrund meiner Schnelligkeit im Aufgabenlösen hatte, für
Dummheiten. Trotzdem blieb ich primus inter pares in meiner Klasse. Oftmals
als Streber verschrien, meist sehr einsam, geschätzt nur, wenn es darum
ging, Klassenarbeiten zu schreiben. Dann wollten alle neben mir sitzen dürfen … .“ [www.netzone.ch/wert4all/hochbegabt/school.php]
So bekam er wenigstens auch ein wenig Aufmerksamkeit, denn Antworten im Unterricht
durfte er schon lange nicht mehr geben, weil seine Geschichten zwar phantasievoll,
aber viel zu lang für die Mitschüler waren und außerdem vom
Thema weg führten sowie zu viel Zeit in Anspruch nahmen. Für jede
richtig gerechnete Aufgabe der einfachen Art wollte er eine Gegenleistung in
Form von Knobelaufgaben oder zur schriftlichen Multiplikation. Auch das hielt
vom Arbeiten am eigentlichen Unterrichtsthema ab. Irgendwann arbeitete er gar
nicht mehr mit, verweigerte die Antworten, so dass seine Lehrer annahmen, er
könne es nicht. Denn Paul hatte gut beobachtet: Wenn ein Mitschüler
Schwierigkeiten beim Lernen hatte, kam die Lehrerin zu ihm, erklärte die
Aufgabe erneut, nahm manchmal die Hand und führte sie über das Papier.
Das Kind, das noch stockend las, durfte häufiger vorlesen, damit es sich übt,
und wurde viel gelobt. Aber Pauls Rechnung ging nicht auf: Anfangs glaubten
die Lehrer, dass Paul nur aus Bockigkeit nicht antwortete, und ließen
ihn links liegen. Später meinten sie, es hätte sowieso keinen Sinn,
weil er nicht lernen wolle, und er bekam wieder nicht die gewünschte Aufmerksamkeit.
Dafür verbrachte er immer mehr Zeit vor dem Klassenraum, damit er sich
beruhigte. Anfangs war dies sogar interessant, weil auf dem Flur allerlei Aushänge
sein Interesse auf sich zogen. Aber auch diese waren bald alle gelesen. Nun
störte er den Unterricht anderer Klassen oder verließ selbstständig
das Schulgebäude.
Schon im Halbjahr der ersten Klasse wollte er die Schule auf keinen Fall mehr
besuchen, er reagierte mit Kopf- und Bauchschmerzen, verfiel in Weinkrämpfe,
wenn es morgens in die Schule gehen sollte. Auch alle Versprechungen der Eltern
als Belohnung, wenn er die Schule tapfer aushalten würde, verfehlten zunehmend
ihre Wirkung, weil Paul nicht wusste, wie er den Tag ertragen sollte. Irgendwann
lag er morgens im Bett und konnte gar nicht mehr aufstehen. Die Eltern bemühten
die verschiedenen Ärzte, aber organische Ursachen konnten nicht festgestellt
werden. In die Schule trauten sie sich kaum noch, denn dort waren sie diejenigen,
die mit ihrem übertriebenen Ehrgeiz den Jungen kaputtgespielt hatten.
Längst konnten Pauls Mitschüler sauberer die Zahlen schreiben und
sie beherrschten im Unterschied zu ihm die Schreibschrift. Sein Schriftbild
ahmte die
Druckschrift nach und wirkte sehr ungelenk. Alle Buchstaben, die das Wort enthielt,
hatte er meistens, aber nicht in der richtigen Reihenfolge. Entsprechend sahen
die ersten Zensuren aus, die er bekam. Diese entmutigten ihn dann vollends.
Auch in Mathematik standen dort Vieren bis Sechsen, weil er keine Lust hatte,
die langweiligen Aufgaben zu lösen. Sein Bemühen, lieber zehn untereinander
stehende Zahlen zu addieren und somit zwei Aufgaben zu rechnen anstelle von
10, wurde nicht mit einem Lob anerkannt, sondern getadelt, weil er den notwendigen
Rechenweg nicht fand. Er versuchte auch, die Lehrerin zu testen: Forderte die
Aufgabe zwei Zahlen zu addieren, subtrahierte er sie und umgekehrt. Im nächsten „Rechenturm“ zählte
er immer eins dazu bzw. ab. Die Lehrerin versah alle Ergebnisse mit einem f
und tadelte sein Unvermögen, diese einfachen Aufgaben zu lösen.
Was war nun für Paul und auch für seine Eltern passiert?
Der Junge war nicht mehr in der Lage, die einfachen Anforderungen der Grundschule
zu erfüllen, obwohl er über ein großes Allgemeinwissen verfügte.
Schon in der 2. Klasse wurde wegen der Verhaltensauffälligkeiten der mobile
schulpsychologische Dienst eingeschaltet. Dieser kam nach einer einstündigen
Hospitation zu dem Ergebnis, dass Paul eine Förderschule für verhaltensbehinderte
Kinder besuchen sollte. Nur ein IQ – Test auf Bestreben der Eltern, der
seine hohe Begabung nachwies, verhinderte diese Schullaufbahnentwicklung, denn
die Grundschule musste Paul wieder aufnehmen.
Ansonsten half ihm der Test aber nicht, weil die Lehrerin auch nach einem Gespräch
mit der Psychologin nicht bereit war, sich darauf einzulassen mit Paul anders
umzugehen. Vielmehr wurde sein Nichtleisten mit einer bösen Absicht des
Jungen gleichgesetzt. Nur mühevoll erreichte er am Ende der vierten Klasse
eine Versetzung. Er bekam die Empfehlung für die Regelschule und später
für die Hauptschule. Die Eltern gaben sich und ihren Sohn völlig
auf, weil sie nicht wussten, wie sie reagieren sollten und wo sie Hilfe bekommen.
Paul besuchte zunächst die neue Schule mit großem Interesse, aber
schon nach 8 Wochen begann er zu schwänzen bzw. den Unterricht massiv
zu stören, denn es gab nichts, was ihn interessierte. Längst wollte
er nicht mehr wissen, was passiert, wenn der Mond morgens untergeht und die
Sonne am Himmel erscheint. Auch die schriftliche Multiplikation hatte er nicht
erlernt, also erfasste er im Unterricht Folgeschritte nicht. Er war in einen
Teufelskreis geraten, aus dem er selbst keinen Ausweg mehr wusste. Ein erneuter
Test bestätigte wieder die hohe Intelligenz, aber leider auch die massiven
Folgen der andauernden Unterforderung und der Repressalien seitens der Lehrer
und Schüler.
Seine überdurchschnittlichen Fähigkeiten, die er anfangs unter Beweis
stellte, besaß er sicher noch, aber sie waren verschüttet. Sein
Engagement und seine Kreativität waren abhanden gekommen. Er begann sein Äußeres
zu vernachlässigen, isolierte sich mehr und mehr selbst. Seine Kreativität
zeigte sich, aber immer mehr im Negativen. Wenn er am Unterricht teilnahm,
dann tat er dies durch störendes Verhalten, er reagierte seinen Frust
einfach ab. Seine Schulleistungen wurden immer mittelmäßiger, niedriger,
bis sie den Anforderungen gar nicht mehr gerecht wurden, sodass eine große
Diskrepanz zwischen den IQ – Tests und den erbrachten Leistungen deutlich
wurde. Er hatte sich von einem Hochleister zu einem Leistungsversager und Schulverweigerer
entwickelt.
Wie ging es den Lehrern?
Seine Grundschullehrer versuchten anfangs noch Einfluss zu nehmen, denn sie
wussten, was Paul leisten konnte, als er eingeschult wurde. Aber ihr Verhältnis
zu ihm wurde zunehmend gestört, weil er sich in seinem Verhalten nicht
an die Forderungen hielt und alle Bemühungen ohne Erfolg blieben. Bei
25 Kindern in der Klasse war nicht die Zeit, sich einzeln mit ihm zu beschäftigen,
um ihn erst einmal wieder an die geforderten Leistungen heranzuführen.
Außerdem gab es genügend Kinder, die dieser Zuwendung bedurften,
und bei ihnen führte die Arbeit der Lehrer auch zu Teilerfolgen. Kinder
und Eltern waren ihnen dankbar, Paul jedoch weigerte sich und beschimpfte sie
sogar manchmal. Ähnliches wurde von den Eltern in der Stadt erzählt.
Also wollten sie offensichtlich keine Hilfe. Sie waren genauso uneinsichtig
und unbelehrbar wie Paul. Er äußerte dazu später: „Ein
Schulleiter verstand schließlich, dass mit mir etwas anders war. Zu meinen
Eltern meinte er, ich sei auf der falschen Schule. Eine andere Schule oder
Lösung konnte er jedoch auch nicht anbieten. So musste ich – alleingelassen
von den Erwachsenen – versuchen, selber mit meinem Verhalten klarzukommen.“ [www.netzone.ch/wert4all/hochbegabt/school.php]
In der Regelschule entdeckte man schnell sein gut ausgeprägtes abstraktes
Denkvermögen, seine Fähigkeit zu schlussfolgern und seine Gedanken
sprachlich flüssig darzulegen. Erstaunlich war seine Gedächtnisleistung,
denn selbst, wenn er sich kein Wort im Unterricht mitschrieb, behielt er jede
Einzelheit. Ungemein schnell erfasste er Informationen aus Texten, komprimierte
sie auf das Wesentliche und transferierte sie bei der Behandlung neuer Sachverhalte. Ähnlich
bezog er Informationen ein, die er im Fernsehen oder beim Zeitungslesen erhalten
hatte. Diese Fähigkeiten aber traten immer weniger in Erscheinung, weil
Paul immer weniger motiviert war, die Schule zu besuchen bzw. sich den Anforderungen
des Unterrichts zu stellen. Auch spärliche Hilfsversuche kamen zu spät,
weil Paul das Vertrauen in Erwachsene verloren hatte. Er war in der Schule
nicht in der Lage, mit Ausdauer und Beharrlichkeit an einer Sache zu arbeiten.
Seine Eltern hingegen beobachteten zu Hause, dass er sich oft stundenlang dem
Modellbau mit Akribie widmete. In diesen Materialien herrschte peinlichste
Ordnung, niemand durfte dort etwas verändern. In seinen Schulsachen hingegen
war das Chaos typisch. Weder führte er einigermaßen seine Hefter
noch hatte er die erforderlichen Materialien mit. Hausaufgaben besaß er
eigentlich nie, also fragte ihn auch niemand mehr. Man freute sich, wenn er
fehlte, weil er dann das Lernen der anderen nicht behinderte. Er blieb zu Hause
und suchte die außerschulische Herausforderung, indem er mehr oder weniger
gefährliche Versuchsreihen aufbaute, um einer Problemlösung näher
zu kommen. Stolz präsentierte er am Abend seinen Eltern die Forschungsergebnisse,
erhielt aber natürlich nur Tadel für seinen versäumten Schultag.
Das löste bei Eltern, Lehrern und bei Paul neuen Frust und neue Demotivation
aus, der Teufelskreis wurde immer enger. Seine anfängliche Neugier, seine
Offenheit für die verschiedensten Themen, sein Wissensdurst waren abhanden
gekommen.
Sie wurden ersetzt durch Schulfrust, Desinteresse, Aufsässigkeit und anderes
unerwünschtes Verhalten, zumindest im Schulalltag.
Dass Lehrer sich dabei nicht wohl fühlten, muss hierbei nicht extra erwähnt
werden. Einen Versuch der „Förderung“ starteten sie noch:
Es wurden sogenannte „Wohlverhaltensphasen“ für jede Stunde
im Hausaufgabenheft bewertet, indem seine schriftliche Mitarbeit beurteilt
wurde. Außerdem wurde notiert, ob Paul in die Klasse gerufen hatte. So
kam es, dass sein Hausaufgabenheft nur noch von den Lehrern benutzt wurde.
Es entstand ein Nachweis des Fehlverhaltens, der die Basis für den Strafkatalog
bis hin zur 2 – 3 – wöchigen Schulsuspendierung bildete. Trotzdem
wussten die Lehrer nicht, wie sie Paul begegnen und ihm helfen sollten. Schließlich
stellten auch sie den Antrag, ihn für die Förderschule zu testen.
Wie hätte diese Geschichte anders verlaufen können?
Vielleicht hätte es Paul geholfen, wenn Eltern wie Lehrer seine Auffälligkeiten
von Anfang an hätten zuordnen können. Dann hätten sie gewusst,
dass zum Erbringen von Hochleistungen überdurchschnittliche Fähigkeiten,
Engagement und Kreativität (Drei – Ringe – Definition von
Hochleistung nach Renzulli) erforderlich sind und dass das Hochleistungsverhalten
beeinflusst wird. Sie hätten erfasst, dass Pauls Leistungsbedürfnis
immer mehr gesunken ist, sein Selbstbewusstsein gegen Null tendierte, er sich
nicht zu helfen wusste. Sie hätten gemerkt, dass seine kindlichen Interessen
weniger stimuliert, dafür aber eher unterdrückt wurden. Sie hätten
ihm die Erfahrung erspart, dass man über Negativverhalten mehr Aufmerksamkeit
erregt als durch Interesse am Stoff oder darüber hinaus. Vielleicht hätten
sie gewusst, dass Paul den Mathematikunterricht der dritten Klasse mit ein
bisschen Unterstützung des Fachlehrers problemlos hätte meistern
können, er sich dadurch ernst genommen gefühlt hätte und erlebt
hätte, dass Schule sein Lernbedürfnis stillen kann und sie deshalb
Spaß macht. Er hätte seine Fähigkeiten zum selbstständigen
Lernen ausbauen können und wäre vielleicht auch schnell in Deutsch über
den Stoff der ersten Klasse hinaus gewesen, wenn er das Schreiben mit Anleitung
erlernt hätte. Eine Weiterbeschulung in der zweiten Klasse wäre dann
machbar gewesen. Sicher hätte er später das Gymnasium oder eine Spezialschule
besuchen können und wäre angemessener gefördert worden, um seine
guten Anlagen zu nutzen.
Auch die Lehrer hätten profitiert, denn anstelle eines Störenfriedes,
Leistungsversagers und Schulverweigerers hätten sei einen lernbereiten,
wissbegierigen Jungen zu Höchstleistungen gebracht und erlebt, wie viel
Spaß das Unterrichten machen kann.
Selbst die Eltern hätten einen Nutzen gezogen, denn ihr Kind wäre
glücklich und zufrieden, ausgeglichen und selbstbewusst durchs Leben gegangen
und die Harmonie in der Familie wäre durch Paul nicht gestört worden.
Wer ist schuld an dieser fatalen Entwicklung?
Genau genommen – niemand, weil jeder bemüht war, sein Bestes zu geben. Aber es würde helfen, sich mit dieser Problematik auseinander zu setzen, eventuell Grundpositionen zu überdenken und zu verändern sowie nach neuen Wegen zu suchen, auch diesen Kindern einen Platz in unseren Schulen einzuräumen, um eine solche Entwicklung zu vermeiden. Die Hilfe für sie sollte genauso selbstverständlich sein wie bei LRS oder Dyskalkulie. Das Mitteilen einer hohen intellektuellen Leistungsfähigkeit darf nicht zu einem exotischen Blick auf den Schüler und dessen Eltern führen und sollte genauso wenig als Herausforderung zum Gegenbeweis verstanden werden, sondern bei Lehrern Freude hervorrufen und ein kindgerechtes Wirksamwerden anregen.
Man sollte nun nicht davon ausgehen, dass jeder Schulverweigerer und Leistungsversager ein fehlgeleitetes hochbegabtes Kind ist, aber es gibt sie (ca. 15 % aller Hochbegabten, die wiederum ca. 2 % der Gesamtbevölkerung ausmachen) und sie brauchen die Unterstützung ihrer Umwelt, um ihren Weg erfolgreich gehen zu können.
Wie könnte diese Unterstützung aussehen?
Anregungen geben dazu die „Erste Hilfe für Lehrer im Umgang mit
(hoch-) begabten Kindern“ (siehe Tagungsunterlagen).
Außerdem haben Erfahrungen gezeigt, dass das induktive Modell des Lernens
diesen Kindern eher entgegen kommt. Wichtig ist natürlich auch eine klare
Diagnostik und Beratung aller an der Erziehung und Bildung des Kindes Beteiligten
in regelmäßigen Abständen, weil dieses „Unterstützersystem“ kein
starrer, sondern ein flexibler Plan sein muss, an dem ständig gearbeitet
werden sollte.
Ist es bereits zum Leistungsversagen und Schulverweigern gekommen, muss es
allen Beteiligten gelingen, zunächst diese Negativerfahrungen zu brechen
und das Kind wieder für das Lernen zu motivieren. Dabei könnten folgende
Schritte hilfreich sein, ohne hier den Anspruch auf Vollständigkeit erheben
bzw. „ein Rezept“ geben zu wollen.
- Wertschätzen der Persönlichkeit des Kindes
- Stärken stärken, d.h. trotz aller Probleme, die der Alltag mit
sich bringt, sollte man bemüht sein jenes hervorzuheben, das gut und sehr
gut gelingt, eigentlich anzubringender Tadel sollte „heruntergeschluckt“ werden
- Erfolg „organisieren“
- genaue Analyse der Schwächen und gezielte Hilfe (z.B. beim Erstellen
von Mitschriften, Ordnen von Schulmaterialien, beim Lernen Lernen), ohne das
Kind zu blamieren
- Stellung von kleinen, überschaubaren Zielen
- nicht – traditionelle Studienmethoden unterstützen
- Lernerfahrungen außerhalb der Schule schaffen
- Mentorenbegleitung und eventuell therapeutische Begleitung (schulpsychologische
Untersuchung und Betreuung)
- Individualität muss erlaubt sein, da Bildung kein automatisierter Fertigungsprozess
ist an dessen Anfang ein "unbeschriebener Schüler" steht und
an dessen Ende (im besten Falle) ein hochmotivierter, lebenskluger Abiturient "ausgeworfen" wird.
- Beachtung dessen, dass es wegen der bestehenden Schulpflicht keine Fluchtoasen
für betroffene Familien gibt und die Verweigerung der richtigen Förde-rung
zwangsläufig die Biografie (meist von Müttern und Kindern) beeinflusst
- Vergleich zum Sport ziehen: der Trainer muss die Fähigkeit besitzen
die komplizierte Sportlerpersönlichkeit einfühlsam und mit einem
maßgeschneiderten Trainingsprogramm zu betreuen, denn der Erfolg des
Sportlers ist gleichzeitig der Erfolg des Trainers, wäre dieser dazu nicht
bereit, würde ihm niemand solche talentierten Sportler anvertrauen, verläuft
die Leistungsentwicklung erwartungswidrig, wird das Verhältnis von Trainer
und Sportler hinterfragt - überträgt man nur einen Bruchteil davon
auf Schule, wird klar, welchen hohen Stellenwert die Lehrerpersönlichkeit
im Lernprozess eines Kindes hat
- beachten, dass das Kind in aller Regel nicht das Wissen des Lehrers überprüft,
sondern Ehrlichkeit, Vertrauenswürdigkeit und die Fähigkeit zum (lern)partnerschaftlichen,
würdigen Miteinander sucht
- Förderung in schulstofffremden Projekten, z.B. in einem Talentepool
der Schule, in dem Schüler ihre Themen bearbeiten und sich „nebenbei“ Lernmethoden
aneignen und so vielleicht wieder Spaß daran finden zu forschen und zu
lernen (selbstständiges Arbeiten und Studieren anregen)
- Umgang mit Entwicklungsgleichen (intellektuelle Peers) fördern
Monika Möller, 2. Vorsitzende des RV Thüringen e.V. der DGhK
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